Wahl in Polen: “Europa befindet sich in einer Phase der Veröstlichung“

Interview

Polen hat die EU positiv wie negativ verändert, meint der Diplomat Dr. Marek Prawda. Er ist davon überzeugt, dass die europäische Idee eine zentrale Aufgabe für die deutsch-polnischen Beziehungen ist.

Joanna Maria Stolarek: Pol*innen gelten als begeisterte Europäer*innen. Andererseits hat Polen immense Probleme mit der Europäischen Union (EU), wenn es um die Frage der Rechtsstaatlichkeit und – als Folge dessen – um zurückgehaltene EU-Gelder aus dem Wiederaufbaufonds geht. Wie ist das Verhältnis zwischen Polen und der Europäischen Union zurzeit?

Dr. Marek Prawda: Das Verhältnis ist geprägt von einer Mischung aus Begeisterung, Zuversicht und eingeübter Skepsis. Ich glaube, dass die polnische Bevölkerung sehr genau weiß, was sie an der EU hat und warum sie daran festhalten sollte. Auf der anderen Seite wird in der Innenpolitik versucht, die Europäische Union als Schuldige für alle möglichen Probleme zu präsentieren. In Polen zeigen Umfragen eine Unterstützungsrate von über 80 Prozent für die Europäische Union. Wenn detaillierter nachgefragt wird, heißt es oft, dass eine gewisse Skepsis gegenüber der EU da ist, aber kaum jemand kann begründen, warum eigentlich.

Das ist wiederum ein deutliches Zeichen dafür, dass die antieuropäische Rhetorik der Regierung wirkt. Die Regierungspartei bietet den Menschen sozusagen ein Paket an. Dieses Paket beinhaltet viele Geschenke und soziale Leistungen, aber auch ein Weltbild, das eine Abneigung gegenüber der EU und Deutschland beinhaltet. Viele nehmen das an, weil sie sich keine Mühe machen wollen, die Zusammenhänge zu verstehen. Das ist die kürzeste Erklärung meinerseits für diese Ambivalenz, weil es eigentlich nicht rational zu verstehen ist, warum eine proeuropäische Bevölkerung eine antieuropäische Partei wählt.

Welche Rolle spielen die EU und das Verhältnis Polens zu ihr im jetzigen Wahlkampf?

Viele Parteien erklären einerseits, dass ihnen das Thema Europa wichtig ist. Sie versprechen, dass die Beziehungen zur EU nach den Wahlen besser werden und Polen die blockierten EU-Mittel bekommen wird. Auf der anderen Seite wissen polnische Politiker*innen, dass die wirklichen europäischen Themen, wie etwa die Rechtsstaatlichkeit, in der Breite schwer zu vermitteln sind. Oft wird mit persönlichen Erfahrungen argumentiert um klarzumachen, was die Bürger*innen verlieren könnten. Das Thema Europa könnte im Wahlkampf eine größere Rolle spielen, tut es zurzeit aber nicht.

Für die jüngere Generation ist die Mitgliedschaft Polens in der EU mit all ihren Vorteilen wie zum Beispiel der Reisefreiheit eine Selbstverständlichkeit.

Die ältere Generation versteht die Europäische Union als eine Schicksalsgemeinschaft. Unsere Mitgliedschaft löste auch die geopolitischen Probleme und Belastungen Polens. Deshalb ist die Perspektive hier eine breitere. Jungen Menschen muss das erklärt werden, denn sie kennen Polen nur als Mitglied der EU. Neulich sprach ich mit jungen Menschen in Breslau, Studierende, die zugleich aber auch als Unternehmer*innen tätig sind. Für sie bedeutet die EU auch Marktfreiheit. Sie haben ihre Firmen zum Beispiel in Denver registriert, weil das für sie günstiger ist. Diese Generation reist in der Welt herum, weiß um die Vorteile der EU, für sie gibt es die Grenzen nur auf dem Papier.

Übrigens ist Deutschland für diese jungen Unternehmer*innen ein ziemlich schwieriges Land, so bekomme ich das gespiegelt. In manchen europäischen Ländern sei es einfacher, wirtschaftliche Beziehungen zu etablieren. Auch die Art und Weise der Zusammenarbeit wird kritisch gesehen. Es sei schwierig, eine Geschäftsbeziehung aufzubauen, wenn man mehr erwartet als die Rolle des Subunternehmers.

Die EU wird zunehmend als Teil der globalen Wirtschaft wahrgenommen und sie wird daran gemessen, inwieweit sie in dieses Bild passt. Wenn ich mit den Menschen in den Regionen Polens spreche, dann erkläre ich ihnen oft, wie wichtig die Mitgliedschaft in der EU ist – auch als Zugang zu anderen Märkten. Ein Beispiel: In Bolesławiec wird traditionell die wunderschöne Bunzlauer Keramik produziert. Sie ist weltberühmt. Das Unternehmen fristete ein kümmerliches Dasein, lebte aber auf, als die EU 2011 einen Handelsvertrag mit Südkorea unterzeichnete. Das hat die ganze Gegend und die Leute verändert. Für sie sind die EU-Gelder sekundär. Für sie ist der Zugang zu den Märkten wichtig. Ich erzähle das Beispiel, weil ich damit die Frage beantworten möchte, wie man jungen Menschen erklären kann, dass die EU etwas taugt und dass wir die EU wirklich brauchen.

Aber dann ist für Polen, wenn ich Sie richtig verstehe, die EU eher eine Wirtschaftsgemeinschaft als eine Wertegemeinschaft, oder ist das zu einfach gedacht? Und wie hat Polen die EU verändert?

Da würde ich gern etwas provokant antworten: Polen hat Rechtsstaatlichkeitsprobleme produziert und damit die EU sehr verändert. Weil die EU damit gezwungen wurde, Instrumente zu entwickeln, um gegen die Kräfte effektiver vorzugehen, die die EU schwächen.

Polen hat Rechtsstaatlichkeitsprobleme produziert und damit die EU sehr verändert.

Probleme mit Ungarn und mit Polen haben dazu geführt, dass der sogenannte Konditionalitätsmechanismus eingeführt wurde, das heißt, dass der Haushalt, der für sieben Jahre aufgestellt wird, konditioniert ist. Das bedeutet, dass Grundbedingungen erfüllt werden müssen, damit ein Land die Gelder bekommt. Das hat es früher zwar auch gegeben, es reichte aber eine allgemeine Bewertung vor Beginn des siebenjährigen Haushaltszeitraums. Nun wird die Einhaltung der Gesetze kontinuierlich überwacht. Die EU war eine Gemeinschaft der Solidarität und sie ist zu einer Gemeinschaft der konditionierten Solidarität geworden.

Polen hat aber auch zur Veröstlichung der Europäischen Union beigetragen, indem die Erfahrungen und die Expertise der östlichen Länder zu einem unverzichtbaren Element der europäischen Identität geworden sind. Das hat vor allem der Krieg in der Ukraine bewirkt. Ich glaube, dass wir jetzt sogar eine Neugründung der Europäischen Union erleben, wenn ich das ein bisschen überspitzt sagen darf. Das heißt, dass die EU nicht nur eine Regelfabrik, sondern wieder eine Schicksalsgemeinschaft ist, weil sie als Großmacht handeln muss. Die Ferien von Geopolitik sind zu Ende. Es reicht nicht, nur Regeln zu schaffen und sich an sie zu halten, wir müssen auch fähig sein, uns zu verteidigen. Die Sonne scheint nicht immer, manchmal hagelt es auch, und wenn es hagelt, genügt es nicht, wenn wir nur unsere Regeln befolgen. Die Demokratie muss auch Kriege gewinnen können.

Und das ist ein Verständnis, das natürlich aus historischen Gründen in Polen und in anderen Ländern unserer Region etwas stärker verankert ist – jetzt, nach der russischen Invasion, hat sich dieses Verständnis in ganz Europa ausgebreitet. Das kann auch in Zukunft ein wichtiger Beitrag Polens sein oder ein Beitrag der deutsch-polnischen Beziehungen, die regionalen Perspektiven der Sicherheitspolitik besser zu verstehen und sie in die gemeinsame Sicht der Union zu integrieren.

Polen hat Europa verändert: positiv wie negativ. In Polen wurde lange Zeit die Meinung vertreten, die EU sei zu schwach und werde eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit einfach hinnehmen. Die EU hat sich das zu Herzen genommen und wurde – nicht von europäischen Bürokrat*innen, sondern von den Bürger*innen in ihren Ländern – quasi dazu gezwungen, neue Rahmenbedingungen zu schaffen. Bedingungen, die auch für die Wirtschaft von Bedeutung sind, weil die Welt der Werte nicht von der Welt des Geldes zu trennen ist. So kommen wir durch die Wirtschaft sehr wohl zu der fundamentalen Bedeutung der Werte.

Also in diesem Sinne: Viele, denen es irgendwie entgangen ist, dass die Europäische Union auch eine Wertegemeinschaft sein muss, sind spätestens durch den Konditionalitätsmechanismus daran erinnert worden, dass es nicht so sein darf, dass die EU nur gebraucht wird, wenn es einem gerade in den Kram passt.

Die Veröstlichung heute bedeutet, dass die östlichen Nachbarn ein Teil der Lösung sein müssen.

Sie haben gesagt, die Mitgliedschaft Polens habe dazu geführt, dass es zu einer Art Veröstlichung der EU gekommen ist, dass sich die EU Richtung Osten verschoben hat. Mit der russischen Invasion in die Ukraine hat Polen auch eine neue Rolle in der EU bekommen. Wie kann das Land diese erfüllen?

Früher war es so: Der Osten wollte Westen werden. Das war die Ambition meiner Generation und das war auch verständlich, wir mussten uns anpassen. Aber bei all dem wurden die Verdienste, die Geschichte und die Kenntnisse im Osten nicht gesehen, die für die ganze EU von Bedeutung waren und sind. Die russische Invasion hat das deutlich vor Augen geführt. Das könnte man auch in Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung sagen.

Was meine ich mit Veröstlichung: Erstens, dass das Jahr 1989 nicht hinreichend aufgearbeitet worden ist. Denn eine Folge dieses Nicht-Verarbeitens von 1989 war auch die, dass man in Deutschland alles durch die russische Brille gesehen hat. Die Deutschen haben gedacht, dass sie alles über die Ukraine und über Georgien wissen. Sie kannten aber nur die russische Erzählung über diese Länder, deshalb war es so leicht, den Deutschen einzureden, dass die Ukrainer Faschisten und Nationalisten seien. Das geschah infolge der – ich benutze diese Formulierung in Anführungsstrichen – „typisch deutschen Einstellung zu einer anderen Großmacht“. Wir sind wer und die Russen sind wer und die anderen hat man nicht so genau gesehen.

Und die Veröstlichung heute bedeutet, dass die östlichen Nachbarn ein Teil der Lösung sein müssen und der Westen diesbezüglich umdenken sollte. Es reicht nicht zu sagen: Wir lösen ein Problem – ihr könnt dabei sein oder nicht, wenn nicht, dann machen wir es… Nein, es gibt Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können. Nur gemeinsam können wir die Demokratie verteidigen.

Sie haben eben auch die deutsch-polnischen Beziehungen angesprochen. Oft, wenn es um das Verhältnis zwischen Polen und der EU geht, denken hier viele: Berlin ist Brüssel, Brüssel ist Berlin. Einige Wahlkampagnen arbeiten sehr stark mit antideutschen Ressentiments, die deutsch-polnischen Beziehungen sind in keinem guten Zustand. Wie kann hier die europäische Idee helfen, die deutsch-polnischen Beziehungen zu verbessern?

Die europäische Idee kann uns davon befreien, dass wir uns nur mit uns selbst beschäftigen. Die europäische Idee kann an uns eine Aufgabe herantragen, die wir durch Zusammenarbeit lösen können. Und das wird auch den deutsch-polnischen Beziehungen guttun, weil man dadurch einer größeren Gemeinschaft hilft. Wir können niemanden mehr damit beeindrucken, dass wir uns irgendwie vertragen. Wir müssen den anderen zeigen, dass wir imstande sind, einen Mehrwert in der Europäischen Union zu produzieren, nur dann werden wir wirklich geschätzt. Und daran kann auch die Qualität der deutsch-polnischen Beziehungen gemessen werden und nicht an den tausendmal wiederholten historischen Fragen.

Zudem hat Europa heute in der Phase der Veröstlichung notwendigerweise neue Themen. Da ist Raum für Polen, um kooperativ zu sein; da ist Raum für Deutschland, die Einseitigkeit der Ostpolitik zu reflektieren und zu „reparieren“. Europa könnte von daher konstitutiv für die neuen deutsch-polnischen Beziehungen sein. Die EU braucht dringend Ideen, wie sie effektiver agieren kann – als Europa der engeren Zusammenarbeit, als ein Europa, das „laufen gelernt hat“, weil es heute in der Welt nicht mehr ausreicht, eine Regelfabrik zu sein.

Sie haben einmal auf die Frage, wie kann man die deutsch-polnischen Beziehungen verbessern, geantwortet: „Indem man sich nicht ständig damit beschäftigt, sondern sich eine gemeinsame Aufgabe stellt, die es zu lösen gilt.“ Und ein ebenso schöner Satz, den ich gehört habe, war: „Es wird keine Europäische Union geben ohne Polen und es wird keine ohne Deutschland geben.“ Das heißt, diese zwei Länder sind so wichtig, ein Teil des Westens, ein Teil des Ostens, um eben diese Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft zusammenzuhalten.

Ja, die Veröstlichung hat diese Notwendigkeit gezeigt. Unsere Aufgabe ist es, diese Evolution in eine bilaterale, gesunde Beziehung zu übersetzen.

Die letzte Frage: Wie wird sich das Verhältnis zur EU nach der Parlamentswahl in Polen verändern, je nachdem, wer die Wahl gewinnt?

Die Opposition würde sicherlich schnell die im Verhältnis zur EU entstandenen Probleme lösen. Polen gehörte immer zur konstruktiven Koalition des Aufbaus und nicht zu der Koalition des Zerfalls, der Schwächung der Europäischen Union. Das sollte aber die anderen Mitgliedstaaten nicht davon befreien, die Europäische Union mit neuen Instrumenten auszustatten.

Wenn die Regierungspartei gewinnt, besteht natürlich theoretisch die Gefahr der weiteren Destruktion oder der Entfremdung von der Europäischen Union, obwohl ich glaube, dass die vorhandenen Verflechtungen dieser Politik enge Grenzen setzt. Ich glaube nicht, dass diese Wahlkampfversprechen jemals erfüllt oder realisiert werden können. Das würde schon die Bevölkerung nicht zulassen, wenn ich mir diese Vorhersage erlauben darf. Die Politiker*innen können viel Unsinn über Europa erzählen, aber wenn es ans Eingemachte geht, werden die Bürger*innen das nicht dulden.

Kein Polexit also?

Ich glaube nicht, dass wir jemals dahin kommen werden. Ich weiß, dass man das anders sehen kann, vor allem wenn man viele beim Wort nimmt. Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit markiert im Grunde genommen eine erste Phase des rechtlichen Polexits.

Wird Polen die Ukraine unterstützen, wenn es darum geht, ein Mitglied der Europäischen Union zu werden?

Polen braucht eine ehrliche Erzählung darüber, dass die Ukraine mit ihrem wirtschaftlichen Potenzial, auch mit ihrer Landwirtschaft, eine Bereicherung für die Europäische Union wäre. Das lässt sich machen, dazu ist diese Regierung in der Wahlkampagne aber nicht fähig, weil sie schnell Punkte zu sammeln versucht und Aktionen gegen die ukrainische Landwirtschaft gehören dazu. Im Moment ist es auch so, dass die polnische Regierung der Ukraine eine Europäische Union anbietet, die es nicht gibt. Nämlich eine EU, in der man auf Rechtsstaatlichkeit nicht so genau schaut. Das ist doch absurd, die Ukraine mit aller Kraft zu unterstützen und gleichzeitig die von ihr ersehnte Europäische Union zu schwächen. Und zu glauben, dass es für die Ukraine besser wäre, eine EU zu haben, die sich mit der Rechtsstaatlichkeit nicht befasst.

Alle Welt versteht heute, dass eine effektive Rechtsordnung fundamental wichtig für das Aufbauprogramm der Ukraine wird. Jemand, der der Ukraine Gutes wünscht, müsste natürlich vor allem eine EU der Rechtsstaatlichkeit und der respektierten Werte stärken.